Ingo Schulze: SKULPTUR-GEWÄCHSHAUS

Der Schriftsteller Ingo Schulze schrieb diesen Text im August 2010

Das SKULPTUR-GEWÄCHSHAUS in Magdeburg

Eine Antwort auf die Frage, was Kunst im öffentlichen Raum an heutigen Problemen und Konflikten aufzugreifen vermag, ohne dabei tagesaktuell und agitatorisch zu werden oder sich in Beliebigkeit zu verlieren, gibt das Skulptur-Gewächshaus in Magdeburg. Es steht frei zugänglich im Skulpturengarten des romanischen Klosters „Unser Lieben Frauen“, nicht weit vom Elbufer. Die Stahlkonstruktion, die nicht wie sonst bei Gewächshäusern von einer Folie verdeckt wird, überrascht mit Leichtigkeit und Anmut. Die Bögen überschneiden sich je nach dem Blickwinkel, Spitz- und Rundbögen scheinen einander abzuwechseln, und erweisen so dem romanischen Kloster wie auch dem gotischen Magdeburger Dom im Hintergrund ihre Referenz. Den Künstlern Olaf Wegewitz, Wieland Krause und Johanna Bartl geht es allerdings um mehr: um das aus den Fugen geratene Verhältnis von Zivilisation und Natur, das inzwischen den Alltag eines jeden betrifft. Künstler reagierten schon früh auf die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Das vielleicht prominenteste Beispiel sind die „7000 Eichen“, mit deren Pflanzung Joseph Beuys 1982 auf der documenta 7 in Kassel begann. Das Skulptur-Gewächshaus in Magdeburg ist jedoch kein monumentales Projekt, sondern hat eher Kabinett-Charakter. Es ist dem Beuysschen Ansatz verwandt, jedoch auf eine konkrete Situation bezogen. Zur Entstehung: In Vockerode (Sachsen Anhalt), nur einige Kilometer vom Wörlitzer Park entfernt, befand sich eine der größten Gewächshausanlagen (64 Hektar) der DDR. Die Gewächshäuser wurden durch die eingespeiste Abwärme des benachbarten Kraftwerkes Vockerode beheizt. Der Abschaltung des Kraftwerks folgte 1993 die Stilllegung der Gewächshausanlage. Die letzte Ernte – vertrocknete, mumifizierte Gurken – befand sich noch bis Februar 1997 in den zunehmend verfallenden Gewächshäusern. Der Landkreis Anhalt-Zerbst übereignete den Künstlern das verzinkte Skelett einer Gewächshaushalle, die es in Magdeburg wiedererrichteten, die Fläche zum Naturraum erklärten und der natürlichen Sukzession übergaben. In Umkehrung der ursprünglichen Funktion, wurde aus dem Gewächshaus ein Schutzraum für natürliche Vegetation. Als ich das Skulptur-Gewächshaus zum ersten Mal sah, war die Konstruktion gerade erst errichtet worden. Zwischen dem Rasen innerhalb und außerhalb der Einhegung gab es keinen Unterschied. Fünf Jahre später wird die Idee, die zu dieser Gewächshaus-Skulptur führte, offenbar. Die Natur holt sich ein paar Quadratmeter zurück. „Man muss Geduld haben“, sagt Olaf Wegewitz, „der Boden ist ausgelaugt. Es braucht lange, bis etwas wachsen kann.“ Bis zum Bombenangriff auf Magdeburg im Frühjahr 1945 war dieses Areal bebaut. Den Trümmern folgte ein Rasen. Heute gibt es hier bereits einen dreißig Zentimeter hohen Apfelbaum, es gibt den Feldahorn, die Kohldistel, die Schafgarbe, die Winde mit ihren vielen Blüten, die Schwarznessel. Und es gibt Gräser, die man schon allein wegen ihres märchenhaften Namens nicht missen möchte: Geistchen, Gewöhnlicher Frauenmantel, Grashüpfer, Welsches Weidelgras oder Heudüngerling. Die Künstler führen ein Protokoll über die Pflanzen, die in der Einhegung wachsen, und dokumentieren die Veränderungen. Aber auch Tiere siedeln sich in der „Wildnis“ an. Neben Vögeln, Schnecken und Käfern hat auch ein Igel hier eine Zufluchtstätte gefunden. Der umzäunte Boden wird in der Stadt zum Beobachtungsfeld, in dem man bewusst wahrnehmen kann, wie sich Natur in all ihrer Vielfalt, Komplexität und in ihren Wechselwirkungen mit der Umgebung entwickelt. Der poetische Raum des Skulptur-Gewächshaus ermöglicht uns den Luxus, ein Areal von ca. 8 mal 25 Metern dem unmittelbaren menschlichen Einfluss zu entziehen, und gerade dadurch bewusst zu machen, wie sehr wir für unser Überleben auch auf scheinbar unökonomisches Denken und Handeln angewiesen sind. Die Erwärmung des Erdklimas ist heute nichts mehr, was wir nur aus Büchern oder dem Fernsehen kennen. Als Gesellschaft wie auch als Einzelne sind wir aufgerufen, unseren way of life zu ändern. Wie sich unsere Vorstellung von Fortschritt und dem Umgang mit der Natur verändert, lässt sich auch am Kontext ablesen, in dem es steht. Denn ebenso sprechend wie die Korrespondenzen zu den Bauten des Mittelalters sind die zu den beiden Skulpturen Fritz Cremers „Aufsteigender“ – ein Abguss davon steht vor dem UNO-Gebäude in New York – und „Mutter Erde“. Der Aufsteigende verkörpert bereits einen gebrochenen Fortschrittsbegriff. Die „Mutter Erde“, deren Aufstellung Anfang der Fünfziger in Erfurt durch einen Formalismus-Vorwurf verhindert wurde, scheint in Haltung und Geste direkt auf das, was unter der Stahlkonstruktion gegenüber gedeiht, hinzuweisen. Teil des Kunstwerks ist ein Archiv, in dem umfangreiches Material zu Geschichte und Struktur des einstigen Produktionsbetriebes in Vockerode (historische Fotografien, Filme, Gesprächsaufzeichnungen mit ehemaligen Beschäftigten) gesammelt wurde (www.prozess-skulptur-gewaechshaus.de). Auch das Skulptur-Gewächshaus hatte sich, ähnlich wie Cremers Skulptur, gegen Widerstände durchzusetzen. Diese schienen glücklich überwunden, bis vor einigen Monaten der Magdeburger Oberbürgermeister Dr. Lutz Trümper anordnete, das Kunstwerk aus dem Skulpturengarten des Museums zu entfernen, um es an der „Elbaue“, also vor den Toren der Stadt, wieder aufzustellen. Das wäre vor fünf Jahren, bei der Errichtung des Skulptur-Gewächshauses, eine Option gewesen. Jetzt ist es keine mehr. Sieht man einmal davon ab, dass bisher keine Begründung für diese Anordnung zu erfahren war, bedeutete dieses Ansinnen die Zerstörung des Kunstwerks. Zu Recht weisen die Künstler darauf hin, dass das Metallskelett ein Bestandteil der Skulptur ist, nicht die Skulptur selbst. Was in den letzten fünf Jahren an dem Ort, der im Mittelalter der Nutzgarten des Klosters gewesen ist, entstanden, das heißt, gewachsen ist, gehört zu dieser Skulptur. Auch wenn jedes Kunstwerk im öffentlichen Raum als ortgebunden zu betrachten ist und nicht beliebig versetzt werden kann, so ist es dieses im besonderen Maße. Ein fünfjähriger Prozess würde abgebrochen, eine moderne Skulptur aus ihren Bezügen gelöst. Das Skulpturgewächshaus, das ökonomische und gesellschaftliche Veränderungen Ostdeutschlands mit globalen und allgemein-zivilisatorischen Prozessen in Beziehung setzt, würde aus dem Zentrum der Stadt verbannt. Dass die Einwohner Magdeburgs im Gegensatz zu ihrem Oberbürgermeister das Skulpturgewächshaus akzeptiert haben, zeigt sich nicht nur an der Zahl der Besucher und Zuschriften, sondern auch daran, dass innerhalb der Einfriedung kein Müll zu finden ist. In Magdeburg ist nicht nur ein Freiraum für Pflanzen, Käfer oder Vögel entstanden, sondern auch eine Skulptur, die Freiraum für unser Denken schafft und uns für den Umgang mit Natur und Gesellschaft sensibilisiert. Sie sollte uns erhalten bleiben.

Ingo Schulze